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Aus meiner Geschichte

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Auf den Schultern meines VatersKind der 1960er

Fast alle Kinderfotos von mir schoss meine Mutter. 1965 fotografierte sie diese Turnerei auf den Schultern meines Vaters. Es existieren kaum Kinderfotos, auf denen meine beiden Eltern zu sehen sind.

Damals war es nicht so sehr üblich, dass Frauen die Familienerinnerungen fotografisch festhielten. Doch das war nicht das einzig Unkonventionelle in unserer Familie. Meine Eltern liebten Jazz und Blues, erkundeten Paris zu Fuß (während meine Schwester und ich bei unseren Großeltern waren) und strichen die Wohnung bunt. Ein Eigenheim mit Garten war kein Lebensziel meiner Eltern. Als sich herausstellte, dass ich mit der linken Hand schrieb, engagierte sich meine Mutter dafür, dass ich mich nicht – wie es meinem Vater ergangen war – in der Schule auf Rechtshändigkeit umstellen musste.

Die Familiengründung entsprach ebenfalls nicht den Konventionen. Als ich 1964 geboren wurde, waren meine Eltern nicht verheiratet und hatten dies auch nicht vor. Erst 1965 heirateten sie, nachdem sie sich bewusst für ein gemeinsames Familienleben entschieden hatten. Familien ohne Trauschein waren in den frühen 1960er Jahren in fast jedem Lebensbereich erheblich schlechter gestellt als Gattenfamilien. Die Zeitschrift „Stern“ schrieb denn auch 1963 sehr treffend, die jungen Leute würden heiraten, weil sie sich etwas anderes nicht vorstellen könnten. Eine Eheschließung nach der Geburt eines Kindes verstieß zwar gegen die geltenden Moralvorstellungen, war allerdings nicht außergewöhnlich. Empfängnisverhütung war kaum bekannt, die Mittel dazu – vor der Verbreitung der „Pille“ – schwer zugänglich. So war denn auch fast ein Drittel aller 1965 ehelich erstgeborenen Kinder wie ich vor der Hochzeit gezeugt worden.

 

Politik als Familienthema

Mit "Champion" Jack DupreeIn der Wohnung in Hannover-Limmer, in der ich als Kind mit meinen Eltern und meiner Schwester lebte, hatten wir oft Bluesmusiker zu Gast. Wie ungewöhnlich solche Besuche waren, war mir damals nicht bewusst. Für uns Kinder war das einfach normal. „Champion“ Jack Dupree, der hier um 1971 mit mir zu sehen ist, kochte gerne – und wie ich fand: sehr gut – Gerichte des Soul Food. Beim Kochen mussten die Erwachsenen draußen bleiben, aber uns Kinder ließ er zuschauen. Zwar sprach Jack zu dieser Zeit weder deutsch noch konnten wir Kinder englisch, aber das ließ sich überbrücken. Schwieriger war da schon der Einkauf fürs Essen, denn auf der Straße und in den Läden wurden wir oft feindselig angestarrt. Auch etliche Nachbarinnen und Nachbarn lehnten es ab, immer wieder – wie sie sagten – „diese Neger“ im Haus zu haben. Uns wurde nahe gelegt, aus dem Haus auszuziehen. Doch wir blieben.

Über solche Themen stritten meine Eltern auch mit den Eltern meines Vaters. Mein Großvater, ein Berufsmusiker (erst in der Wehrmacht, später am Theater und der Oper), litt darunter, dass sein Sohn ausgerechnet „Urwaldmusik“ liebte und auch sonst seine dem Nationalsozialismus nahe stehenden Einstellungen nicht teilte. Im Grunde stimmte meine Großmutter ihm zu, bemühte sich aber (oft erfolglos) darum, dass Streits nicht aufkamen oder zumindest nicht allzu hitzig wurden. Ganz anders die Eltern meiner Mutter: Sie lehnten den Nationalsozialismus ab. Als Sozialdemokrat war der Großvater meiner Mutter „zur Abschreckung“ in einem Konzentrationslager inhaftiert. Davon blieb er zeit seines Lebens gezeichnet. Alles in allem prallten verschiedene Werte in meiner Familie und in der Nachbarschaft heftig aufeinander. Wie ich erst später entdeckte, zogen sich solche Konflikte nicht nur durch viele Familien, sondern auch durch Universitäten oder die Regierungen. Politische Auseinandersetzungen – auch und gerade über die Geschichte! – waren für mich nie abstrakte, weit entfernte Konflikte, sondern ein Teil meines Alltags.

 

dr_feie2Promotion in Geschichte

Am Abend nach der letzten Prüfung für meinen Dr. phil. im November 2002: So erleichtert wie erschöpft freue ich mich mit meiner Mutter bei einer Feier. Vormittags hatte ich meine Doktorarbeit über unverheiratete Frauen in der frühen Bundesrepublik – von Gesetzen über Spielfilme bis hin zu Erfahrungen und Deutungen der Frauen selbst – verteidigt und die Note „magna cum laude“ (sehr gut) erhalten. Meinem Doktorvater, Prof. Alf Lüdtke, verdanke ich Vieles; nicht zuletzt die Aufmerksamkeit für Alltagsgeschichte, also unter anderem dafür, wie Menschen die Verhältnisse, Ereignisse, Angebote und auch Zumutungen beeinflussten, wahrnahmen und nutzten.

Da meine Mutter das Kind einer Kriegerwitwe war, hatte sie erlebt, wie in der frühen Bundesrepublik die „Normalfamilie“ gefördert und „unvollständige“ Familien an den Rand gedrängt wurden. Während ich über die Doktorarbeit nachdachte bzw. daran schrieb, diskutierte ich mit meiner Mutter oft über meine Thesen und Schlussfolgerungen. In diesen Gesprächen erinnerte sie sich an viele Einzelheiten, die mein Verständnis der ersten bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnte vertieften. So war meine Mutter mit dieser Doktorarbeit eng verbunden und feierte auch deren Veröffentlichung im Frühjahr 2005 mit. Leider litt sie zu diesem Zeitpunkt schon an einem besonders aggressiven Krebs. Sie starb wenige Monate danach – viel zu früh, im Alter von 63 Jahren. Ihr Sterben und ihren Tod zu begleiten, hat mich tief bewegt. Ich vermisse sie sehr.